Beit (2023)

Beit (auf Deutsch: Haus, Heim). „Die Heimat ist kein besonderer Ort oder Platz. Es ist etwas, das vor allem zwischenmenschlich entsteht und auf Orte und Plätze übertragen wird. Es ist faszinierend, dass wir uns durch intensive Dialoge eine Art Haus aufbauen, eine Heimat schaffen können.

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About The Release

masaa – Beit

Das Quartett masaa begeistert seit vielen Jahren sein Publikum in Ost (von Tunesien über Aserbaidschan bis ins türkische Izmir) wie West (von Spanien über Deutschland, wo die vier Musiker beheimatet sind, bis nach Großbritannien). Auf ihrem bislang letzten Album Irade feierte die Band den Einstand von Reentko Dirks, dessen Gitarrenkünste dem Gruppensound spektakuläre neue Klangfacetten hinzufügten. 2021 wurde Irade mit dem Deutschen Jazzpreis in der Kategorie Vokal-Album des Jahres ausgezeichnet, zudem erhielt der in Monheim bei Köln ansässige libanesische Sänger, Dichter und Komponist Rabih Lahoud den WDR-Jazzpreis.

Auch die Medien sind von der Band begeistert. So lobte die FAZ „die kosmopolitische Ausstrahlung“ und hob unter anderem hervor: „eingängig und gleichzeitig interessant wirken die Melodieführung und das warme Timbre von Rabih Lahoud und Marcus Rust.“ NDR Info konstatierte: „Die Musik hat einen unglaublichen Flow, eine ausgeklügelte Dramaturgie […] und besticht mit einem Trompeten- und Flügelhorn-Sound, der an Nähe und Wärme kaum zu überbieten ist.“ Süddeutsche.de resümierte: „Musik, die laute und leise, nachdenkliche und intensive Töne, Orient und Okzident auf außergewöhnliche Weise vereint.“

Das neue, vierte Album Beit manifestiert die musikalische Tiefe der Band, ihre singuläre Klangsprache und den Gestaltungswillen aller Beteiligten. Allein das Titelstück wirkt wie eine atemberaubende Achterbahnfahrt durch Emotionen und feinsinnige musikalische Wechsel. Anfangs ruhig, beinahe kontemplativ, mit einladenden Gitarrentupfern, zarten Streichern, sensibler Stimme und verwehenden Trompetentönen, wandelt sich der Song ab der Hälfte radikal: über einem ungeraden Groove rappt Rabih Lahoud Silben- und Wortkaskaden, teils im direkten Dialog mit Rust. Auch in „Nabat“ offenbart Lahoud seine Sprechgesangs-Skills, wechselt zwischen akzentuierter Spoken Poetry und melodiösen Passagen. Songs mit Tempo und Drive, darunter die französisch-sprachigen „Racines“ und „Resistance“ sowie das federnd-optimistische „Flowers“ kreieren Kontraste zu langsamen Stücken wie „Mantra“, und „Sukuni“, deren Intensität aus der Reduktion resultiert. Dazwischen positionieren sich Stücke wie „Return“ mit markanter dynamischer Entwicklung.

Stets bildet der eindringliche Gesang Rabih Lahouds, seine Ausdruckskraft über mehrere Oktaven bis in hohe Register, das Gravitationszentrum des Quartetts. Eingebettet in nuancierte Arrangements, deren Dynamik live und auf Platte beeindruckt. Das unverkennbar im zeitgenössischen Jazz angesiedelte Spiel von Trompeter Marcus Rust spannt Bögen von lyrischen Passagen über rhythmische Phrasierungen hin zu spannenden Dialogen mit Lahouds Melismen; Rusts enormes Klangspektrum oszilliert von lautmalerischen über verschattete bis zu strahlenden (Mikro-)Tönen. Schlagzeuger Demian Kappenstein unterstützt und beflügelt mit leichter Hand, mal sensibel, mal lauernd bis energiegeladen. Dazu kreiert Reentko Dirks variable Klänge mit seiner speziellen Akustikgitarre. Auf einem ihrer zwei Hälse spielt Dirks filigrane Pickings und zupackende Akkorde bis hin zu einer Flamenco-Vehemenz. Der zweite Hals ist teils mit Bass-Saiten und teils doppelsaitig bespannt, zudem gibt es in der oberen Hälfte des Griffbretts keine Bünde, was das Spiel von Glissandi und Vierteltönen erleichtert. So kommt Dirks dem Klang eines Kontrabass und der arabischen Laute Oud nahe. Erstmals arbeitet masaa auf Beit auch mit subtilen Streichern, mal etwas kantiger im Titelstück, mal schwebend bis leicht anschwellend in „Mantra“ und „Lotus“, mal etwas orchestraler in „Freedom Dance“.

Während Lahoud alle Texte schreibt, stammen die Kompositionen überwiegend von Rust und Dirks. „Es sind aber eher Skizzen als Partituren“, erklärt Lahoud das kollektive Arbeitsprinzip, „jeder steuert Ideen bei und dadurch bleibt die Musik nie so, wie sie ursprünglich notiert wurde.“ Zur gemeinsamen Entwicklung des neuen Repertoires zog sich das Quartett im Mai 2021 in ein altes Haus im Bergischen Land zurück. „Es liegt weit weg von allen städtischen Ablenkungen, wir konnten also dort nichts anderes machen als unsere Musik“, lacht Rabih Lahoud.

Viele Stücke basieren auf persönlichen Erlebnissen, die im Diskurs universelle Gedanken hervorrufen. Das Zusammensein und die Verständigung, aus der Kreativität entsteht, ist ein zentraler Gedanke von Beit (auf Deutsch: Haus, Heim). „Die Heimat ist kein besonderer Ort oder Platz. Es ist etwas, das vor allem zwischenmenschlich entsteht und auf Orte und Plätze übertragen wird. Es fasziniert mich, dass wir uns durch intensive Dialoge eine Art Haus aufbauen, eine Heimat schaffen können“, sagt Lahoud, „wir brauchen dafür einen Ort, an dem Menschen gleichberechtigt miteinander sein und kommunizieren können. Und wenn die Musik erklingt, verwandelt sich der neue unbekannte Raum in eine vertraute Umgebung, eine Heimat wird kreiert und durch die damit verbundene Vertrautheit und Sicherheit, die Möglichkeit, Inneres frei auszudrücken.“

Rabih Lahouds Poesie beschränkt sich diesmal auf Hoch- und libanesisches Arabisch sowie Französisch. Seine assoziativen, metaphorischen Texte sind absichtsvoll vieldeutig und stets hintersinnig. „Wenn ich etwas sehr konkret ausspreche, gehen Türen zu. Daher stelle ich mir immer die Frage, auf welche Weise ich eine Veränderung anstoßen kann, wenn mir etwas nicht gefällt.“ Das gelte nicht nur auf verbaler Ebene, sondern auch im größeren Rahmen, wenn es eine innere Kraft brauche, um etwas zu unternehmen. Mit Veränderungen kennt sich Lahoud aus, immerhin lebte er rund fünfzehn Jahre im Libanon, ehe die Familie nach Deutschland emigrierte. Die Vorstellung einer bestimmten Gesellschaft treibe ihn heute noch um, bemerkt Lahoud: „bei ‚Zeryab‘ dachte ich an das mittelalterliche Andalusien und das damalige Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen.“

Im direkten Vergleich mit dem Vorgängeralbum Irade ist die spielerische Interaktion besonders von Lahouds Gesang und Dirks’ Oud-ähnlichen Arabesken nun um einiges stärker. „Reentko inspiriert tatsächlich meine Intonation“, stellt Lahoud zufrieden fest. Die spezielle Ästhetik orientalischer Musik leuchtet immer wieder auf, wenngleich sie nicht ostentativ ins Rampenlicht gestellt wird. Manche Stücke wie etwa „Zeryab“ mit seinem eingeflochtenen Nahawand-Modus basieren auf ungeraden bis komplexen Metren, „Abun Rahal“ gründet in einem klassischen Maqam Saba, der mit minimalen Intervallen arbeitet und Schmerz suggeriert.

„Unsere dritte Platte war ein Schrei nach Veränderung. Beit kommt nun an einem Punkt an, wo es besser ist“, resümiert Rabih Lahoud. Tatsächlich wirken die neuen Songs nicht nur philosophischer und tiefgründiger, sondern auch heller. Wer möchte, kann masaa in eine Reihe mit Grenzgängern wie Dhafer Youssef und Rabih Abou-Khalil stellen. Die Musik von Beit ist detailschärfer denn je, die Interaktion noch nuancierter. Wie eine Nahaufnahme, die vieles klarer macht.